Die Schweiz übernimmt die EU-Sanktionen. Damit kann sie ihre Guten Dienste nicht mehr glaubwürdig anbieten!

Liegt durch die Sanktionsübernahmen gegen Russland ein Verfassungsbruch vor oder bedeutet dies sogar, dass die Schweiz ihre Neutralität aufgegeben hat? 

Die Bundesverfassung gibt in Art. 185 der schweizerischen Regierung den Auftrag und der Bundesversammlung die Aufgabe, «Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz zu treffen». Dieser Artikel zur Neutralität in der Verfassung betrachtet die «Neutralität» als Mittel zur Umsetzung der grundlegenden Interessen der Eidgenossenschaft gemäss Artikel 2 der Verfassung. Absatz 1 lautet: «Die schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.» In Absatz 4 steht zudem: «Sie setzt sich ein für (…) eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.» 

Auch interessant in diesem Kontext ist der Artikel 54, Absatz 2, aus welchem sich die Guten Dienste der Schweiz ableiten. «Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie, zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.» (Hervorhebung durch den Verfasser) Soweit mal zur Ausgangslage.

Auf den ersten Blick könnte man denken, dass mit der Übernahme der Sanktionen ein Verstoss gegen den Artikel 185 der Verfassung vorliegt. Wer drastische Sanktionen gegen eine Partei unterstützt, verhält sich nicht neutral in einem Konflikt. Hier stellt sich jedoch die Frage nach der Definition der Neutralität. Das Neutralitätsrecht wurde im Haager Abkommen 1907 festgeschrieben. Das Ergreifen oder Übernehmen von Sanktionen ist mit dem Neutralitätsrecht kompatibel. So wurden z.B. seit den 1990er Jahren auch schon mehrmals Sanktionen anderer Länder mitgetragen. Formaljuristisch liegt folglich keine Verletzung des Neutralitätsrechts vor. 

Dies ist jedoch eine limitierte Betrachtungsweise, welche den Zweckartikel (Art. 2) unserer Verfassung ausser Acht lässt. Hier stellen sich spannende Fragen: Ist durch das Mittragen der Sanktionen die Unabhängigkeit und Sicherheit unseres Landes gefährdet? Vermutlich gab es hier ein zähes Abwägen. Wären die Sanktionen nicht übernommen worden, hätte dies möglicherweise zu unerwünschten Spannungen mit dem wichtigsten Handelspartner EU geführt und die Unabhängigkeit geschwächt. Betrachtet man die Reaktion der Schweiz aus einer Sicherheitsperspektive, muss alles darangesetzt werden, dass sich die Konfliktparteien wieder an einen Tisch zu setzen. Alles, was den Konflikt anheizt, ist strikt zu unterlassen. Zudem muss die Schweiz gemäss Absatz 4 des Zweckartikels einen Beitrag für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung leisten. Wer sich in einem Konflikt auf eine Seite schlägt, kann hier seine Aufgabe nicht mehr wahrnehmen!

Viele selbsternannte Friedensstifter in der Politik argumentieren nun, dass drastische Sanktionen gegen den «bösen» russischen Präsidenten Putin eine angemessene Reaktion sind. Diese Betrachtungsweise ignoriert die lange Vorgeschichte vor der völkerrechtswidrigen russischen Invasion, welche auch Verstösse gegen das UNO-Gewaltverbot von westlicher Seite beinhaltet, komplett und blendet den Kontext der umstrittenen NATO-Osterweiterung aus. Zudem wird dadurch das Instrument der Sanktionen verharmlost. 

Wirtschaftssanktionen treffen immer die Falschen. In erster Linie leiden die einfachen Leute darunter. Viele betrachten Sanktionen als ein moderates Mittel, das zum Einsatz kommen sollte, wenn die Diplomatie versagt hat, aber ein Krieg verhindert werden muss. Diese Sichtweise ist gefährlich. 

Ein Blick zurück anhand der Sanktionen gegen den Irak in den 90er Jahren zeigt Folgendes: Am 2. August 1990 fielen irakische Truppen in Kuwait ein. Vier Tage später verhängte der Sicherheitsrat der Vereinten Nation mit der Resolution 661 eine nahezu totale Wirtschaftsblockade gegen den Irak. Wir werden zwar niemals genau wissen, wie viele Iraker aufgrund der Sanktionen gestorben sind. Sicher ist jedoch, dass die Bevölkerung des Irak in den neunziger Jahren eine humanitäre Katastrophe fürchterlichen Ausmaßes durchlitten hat. Die Zahl der Toten übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Gemäss zahlreicher Studien zum Thema «Irak», welche in Auftrag gegeben wurden, ist gesichert, dass die Sanktionen gegen die irakische Wirtschaft in den 90er Jahren zwischen 300.000 und 800.000 Kinder unter 5 Jahren das Leben gekostet haben.

Wird hier mit unterschiedlichen Ellen gemessen?

Die über 20 weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen, die zeitgleich auf dem Globus stattfinden, ignorieren wir weitgehend. Sie stehen aber dem Konflikt in der Ukraine an Brutalität in nichts nach. Oder: Warum ergreifen wir nicht Sanktionen gegen Saudi-Arabien angesichts des grossen Elends im Jemen? Der immer noch andauernde Krieg in diesem Kriegsgebiet wird von den Vereinten Nationen als die «grösste humanitäre Katastrophe der Welt1» bezeichnet. Weshalb wurden keine Sanktionen ergriffen gegen die Ukraine, als diese im Zeitraum zwischen 2014 und 2022 die eigene Bevölkerung im Donbass bombardierte? 

Der Entscheid, weshalb nun gegen Russland die schärfsten Sanktionen seit langem ergriffen werden, ist schwer nachvollziehbar. Vermutlich hat dies primär mit internationalem Druck zu tun. Souveräne Entscheide sehen anders aus! Der Einmarsch von Russland in die Ukraine erfordert eine Reaktion in Form einer Verurteilung. Alles, was darüber hinausgeht, dürfte jedoch kaum im Interesse unseres Landes sein. Das Stützen der Russlandsanktionen schadet der Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralitätspolitik massiv. Die dringend notwendige Friedensförderung über die Guten Dienste der Schweiz in diesem Konflikt ist so erheblich erschwert.

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