«Rückkehr zur Normalität» wird aufgeschoben

Publiziert 02.11.2021 im K-Tipp 18/2021 (Gery Schwager & Markus Fehlmann)

Darf es der Bund Ungeimpften ­erschweren, am öffentlichen Leben ­teilzunehmen? Bei der Abstimmung vom 28. November zum Covid-19-Gesetz steht diese Frage im Fokus – obwohl im Gesetz das Zertifikat gar nicht für diesen Fall vorgesehen ist.

Seit dem 13. September dürfen Menschen in der Schweiz Restaurants, Kinos, Theater, Museen, Zoos und weitere Einrichtungen nur besuchen, wenn sie ein Covid-Zertifikat vorweisen können. Zutritt hat also nur, wer gegen ­Corona geimpft oder von Covid-19 genesen ist oder 48 bis 72 Stunden zuvor negativ auf das Coronavirus getestet wurde. Vor dem 13. September galt die Zertifikats­pflicht erst für Discos und Grossveranstaltungen.

Der Bundesrat sieht die rechtliche Grundlage des Zertifikats in Artikel 6a des Covid-19-Gesetzes. Dieser ist trotz Referendum seit der Gesetzesrevision vom 19. März in Kraft, weil das Parlament das Gesetz für dringlich erklärte. Der Artikel ­er­wähnt das Zertifikat im Zusammenhang mit Massnahmen bei Grenz­schlies­­sun­gen und nicht zur Beschränkung des Zutritts in öffentlich zugänglichen Räumen im Inland.

Befürworter und Gegner des Gesetzes machen die Abstimmung vom November zu einem Grundsatz­ent­scheid über das Zertifi­kat, obwohl es beim Urnengang um sämtliche Änderungen am Covid-19-Gesetz vom vergangenen 19. März geht. Das Parlament beschloss damals auch zusätzliche Finanzhilfen – etwa an Selbständige und Kulturschaffende – und anderes mehr.

Mit der rigorosen Zertifikatspflicht will der Bundesrat laut eigener Aussage die Gesundheit der Bevölkerung besser schützen. Das Bundesamt für Gesundheit schreibt dem K-Tipp, Ge­impfte würden weniger zur Übertragung des Virus beitragen als Ungeimpfte. Und durch Tests werde erreicht, dass weniger infizierte Personen aufeinandertreffen.

Zertifikatspflicht steht auf wackligen Füssen

Nur: Ginge es dem Bundes­rat um grösstmöglichen Gesundheitsschutz, dürfte er nicht zulassen, dass zum Beispiel im Eishockeysta­dion frisch getestete Ungeimpfte auf möglicherweise ansteckende Geimpfte treffen. Denn so besteht das Risiko, dass ansteckende Geimpfte das Virus an gesunde ­Getestete weitergeben. Der Bundesrat ­müsste für eine strikte Trennung sorgen – also nur entweder der einen oder der anderen Gruppe Zutritt gewähren. Denn laut einer Studie des englischen Wissenschaftsmagazins «Lancet» übertragen Geimpfte das Virus gleich häufig wie Ungeimpfte.

Der Bundesrat könnte aber auch einfach die Zertifikatspflicht aufheben. So wie er dies im Frühjahr ankündigte. Am 21. April ­sagte Gesundheitsminister Alain Berset an einer Medienkonferenz: «Wenn alle Personen, die das wollen, zweimal geimpft sind, können wir die Restriktionen nicht mehr aufrechterhalten.» Inzwischen konnten sich alle Impfwilligen impfen lassen, die allermeisten Ungeimpften verzichteten freiwillig und bewusst.

Dass es die Zertifikatspflicht trotzdem noch gibt, begründet der Bundesrat mit der Situation in den Spitälern. Doch die seit diesem Sommer immer wieder prophezeite Überlastung ist nie eingetreten (siehe Kasten). Zudem sind laut Bundesamt für Gesundheit inzwischen mehr als 88 Prozent der über 80-Jährigen vollständig geimpft. Die hohe Impfquote in dieser besonders gefähr­deten Grup­­pe sollte die ­Spitäler deutlich entlasten, sofern die Impfung wie erwartet wirkt. Trotzdem hält der Bundesrat an der Zertifikatspflicht fest. Die Gegner dieser Massnahme sehen darin einen indirekten Impfzwang. Sie kritisieren, ohne das Covid-Zertifikat könnten «gesunde Menschen nicht mehr am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen».

Das Covid-19-Gesetz kommt am 28. November schon zum zweiten Mal vors Volk. Es stehen dann nur die Änderungen zur Debatte, die das Parlament im vergangenen März beschlossen hat.

Schon vor der ersten Abstimmung am 13. Juni sparten Rechtsexperten nicht mit Kritik an der Vorlage. Der Zürcher Rechtsprofessor Andreas Kley bezeichnete das Gesetz als «ver­fassungswidrig» (K-Tipp 10/2021). Aktuell kritisieren Rechtswissenschafter besonders die Zertifikatspflicht. In der Oktober-Ausgabe der juristischen Fachzeitschrift «Plädoyer» konstatiert der Freiburger Strafrechtsprofessor Mar-cel ­Niggli «ein erhebliches ­Problem hinsichtlich der Rechtsgrundlage» für Strafen.

«Ein Eingriff in die Grundrechte»

Sein Basler Kollege Markus Schefer sieht im Epidemien­gesetz keine genügende Basis für die vom Bundesrat beschlossene und heute ­geltende Zertifikatspflicht. Für Kaspar Gerber, Rechts­wissenschafter an der Universität Zürich, stellt die ausgeweitete Zertifikatspflicht «einen erheblichen Eingriff in die ­Grundrechte» dar. Der Staat habe mit der Zertifikatspflicht «einen Teil des verfassungsmässigen Grundrechts der persönlichen Freiheit konfisziert». Er erschwere damit betroffenen Personen die ungehinderte ­Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

Zudem brauche es für das Zertifikat eine Impfung oder einen Test. ­Beides beeinträchtige die körperliche Integrität. Die Bundesverfassung aber schützt das Recht auf körperliche Unversehrtheit ausdrücklich. Kaspar Gerber weist in «Plädoyer» auch darauf hin, dass das Covid-19-Gesetz keine genügende gesetzliche Grundlage für die Ausweitung der Zertifikatspflicht auf Innenräume darstelle. In diesem Gesetz sei das Zerti­fikat nur im Zusammenhang mit Massnahmen bei Grenzschliessung genannt. Also dürfe es auch nur dort eingesetzt werden.

Auch für Ruth Baumann- Hölzle, Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik, ist der Einsatz des Zertifikats höchst fragwürdig: «Es fehlen wissenschaftliche Belege für den Nutzen des Zertifikats hinsichtlich der Risikoreduktion, wenn so zwischen Geimpften und Ungeimpften unterschieden wird.» Das ist laut Ruth Baumann-Hölzle umso problematischer, als die kostenpflichtigen Tests für das Zertifikat wirtschaftlich schwache Personen benachteiligten.

Intensivstationen sind nicht überlastet

Das Bundesamt für Gesundheit und der Bundesrat begründen die Notwendigkeit des Covid-Zertifikats damit, es gelte, Engpässe in den Spitälern zu verhindern.

Von einer Überlastung der Spitäler und ins­besondere der Intensivstationen war und ist die Schweiz weit entfernt. Das geht aus Zahlen des Bundes hervor. Der koordinierte Sanitätsdienst der Armee wertet die Be­legung aller Intensivbetten der Schweizer Spitäler im Detail aus.

Die entsprechenden Zahlen für die Zeit von Januar bis Mitte Oktober 2021 zeigen: Stets blieben zwischen 20 und 40 Prozent der ­Betten auf den Intensivstationen leer – von Überlastung kann keine Rede sein.

Auch Anfang September, auf dem Höhepunkt der vierten ­Coro­na­welle, gab es ­genug Betten. Gemäss dem Bundesamt waren von 873 Betten auf den Intensivstationen 680 mit Patienten besetzt, davon 298 mit Corona-Patienten. 193 der Betten wären also noch frei gewesen.

In der Woche vom 18. Oktober lagen noch durchschnittlich 107 Corona-Patienten auf den Intensivstationen – im Vergleich zur Vorwoche 17 Prozent weniger.

Rückkehr zur Normalität wird aufgeschoben

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Hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der K-Tipp Redaktion.

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